Teil 2 – Bedürfnisse über die Körperebene herauslesen
Was ist das Körpergedächtnis?
„Das Körpergedächtnis ist die Summe der durch Wahrnehmung, Beziehungen sowie soziale und kulturelle Einflüsse entstandenen Erfahrungen des Körpers. Dabei werden über Sinnesorgane aufgenommenen Eindrücke im Verbund mit Emotionen und Bewegungsmustern als implizite Gedächtnisinhalte abgespeichert. In den Kulturwissenschaften wird das Körpergedächtnis als Gegenstück zu bewußtseinsgebundenen Gedächtnisinhalten angesehen.“ (Quelle Wikipedia)
Nutzen wir unser geniales Körpergedächtnis um unsere Bedürfnisse zu lesen!
Bedürfnisse mit dem Körpergedächtnis herauslesen
Suche dir dazu wieder eine wiederkehrende stressige Situation in deinem Alltag.
Mein Beispiel:
Es ist 20.00 Uhr. Mein Sohn und ich liegen gemütlich auf der Couch. Plötzlich setzt er sich auf und sagt: „Mama, können wir einen Nachtspaziergang machen?“
Puh, es ist spät, morgen ist Schule. Dazu kommt, dass ich wenig Lust auf Kälte und Dunkelheit habe. In mir ist ein fettes „Nein.“ Und dieses sage ich meinem kleinen Menschen.
„Nein, ich mag heute nicht mehr rausgehen in die Kälte.“
„MAMA, biiiitte!“, ruft er laut!
Ich schlage ihm vor, gleich morgen am Nachmittag spazieren zu gehen.
Er ist davon alles andere als begeistert. Mit einem lauten: „Ich will aber jetzt raus!“, pustet er die letzte Gemütlichkeit aus dem Wohnzimmer.
Und dann beginnt er zu jammern: „Gehen wir jetzt raus, Mama. Koooomm! Los Mama bitte zieh dich an! …“. Mein Körper verspannt sich. Und meine Gedanken malen das Grauen aus, wenn er weiter und weiter jammert. Ich mag das überhaupt nicht. Es fühlt sich an, als ob er mich zwingen will.
„Grrr, hör auf mit dem Jammern. Lass uns was spielen“ sage ich genervt. Mit einem bösen Blick sagt er: „Nein, wir gehen jetzt spazieren. Ich will die Sterne sehen!“
Ich habe noch eine letzte Idee: „Wir können auf den Balkon gehen und die Sterne anschauen.“
„NEIN, ich will nicht auf den Balkon, sondern ganz rausgehen!“, schreit mein Sohn.
Jetzt stehe ich auf. Ich verkrampfe mich innerlich noch mehr und will einfach nur noch weg. Ich hasse dieses Jammern!
Stelle dich auf dieselbe Stelle
Ich stelle mich jetzt im Wohnzimmer an dieselbe Stelle, an der ich stand, als die Jammer-Situation am schlimmsten für mich war.
Wenn du im Moment keinen Zugang zu der Stelle hast, weil deine stressige Situation im Wald oder im Laden ist, dann begebe dich nur in dieselbe Körperhaltung.
Gehe jetzt in Gedanken in die stressige Situation
Meine Situation: Mein Sohn sitzt auf der Couch und schreit: „NEIN, ich will nicht auf den Balkon, sondern ganz rausgehen!“
Nimm dieselbe Körperhaltung ein
Ich hatte die Schultern angezogen. Meine Fäuste waren geballt. Ich habe flach geatmet. Meine Stirn war vor Verzweiflung und Wut gerunzelt. Meine Zähne waren aufeinander gepresst.
Genau so stelle mich hin, während ich mir die Situation ins Gedächtnis rufe.
Frage dich jetzt:
Wie fühlt sich mein Kopf an? Meine Brust? Meine Beine? Meine Hände?
Mein Körper erinnert sich: Ich fühle Druck in meinem Bauch. Ich spüre Wut und Ohnmacht. Es ist eng in meiner Brust, sodass nur ein flaches Atmen möglich ist. Mein Kopf tut mir weh. Es ist fast so, als würde ich es nicht mehr in meinem Körper aushalten. Ich will da raus!
Bedürfnis übersetzen
Und jetzt frage dich: Welches Bedürfnis hungert in diesem Moment in mir? oder Was brauche ich in diesem Moment?
(Nimm die Bedürfnis-Liste zu Hilfe)
Ganz klar, ich will Ruhe.
Doch das ist nicht das Bedürfnis, das am meisten in mir schreit. Ich fühle mich nochmals in meinen Körper ein.
Was hungert da noch in mir?
Es fühlt sich ganz verzweifelt in mir an, wenn ich Nein sage und der andere geht darüber hinweg. Fühle mich nicht erst genommen. Nicht wichtig. Und unverstanden.
Mein Bedürfnis nach Verständnis ist in diesem Moment völlig unerfüllt!
Traurigkeit weicht plötzlich der Wut und der Ohnmacht in meinem Bauch. Mir kommen ein paar Tränen. Mein Atem fließt dann ganz ruhig. Ich fühle mich mir ganz nahe. Meine zarte Traurigkeit, bestätigt mir sanft mein Bedürfnis nach Verständnis.
Wie spannend, ich dachte, dass ich einfach Ruhe brauche. Dabei steckte viel mehr dahinter!
Wie könnte ich solchen Situationen mein Bedürfnis nach Verständnis erfüllen?
- Ich fühle mich liebevoll in mich ein.
- Ich sage mir, dass es vollkommen in Ordnung ist, jetzt nicht raus zu wollen.
- Ich umarme mich sanft und atme tief durch.
- Ich mag keine Kälte und das respektiere ich.
- Ich höre auf mir innerlich vorzuwerfen, dass ich nicht mit ihm rausgehe.
- Ich stoppe meine innerlichen Überredungsversuche, doch raus zu gehen.
- Ich stehe hinter mir und meiner Entscheidung.
Weil mein Bedürfnis gestillt ist, kann ich jetzt auch für die Bedürfnisse meines Sohnes sorgen.
Ich gebe auch meinem Sohn Verständnis für seinen Frust, ohne ihn mit neuen Vorschlägen abzulenken. Und ohne mich dabei schuldig zu fühlen, denn ich habe jetzt Verständnis für mich.
Ich will seine Gefühle nicht mehr „abschalten“, um mich nicht schuldig zu fühlen. Ich sehe, dass er sein Jammern braucht um seine Wut, seinen Frust und seine Traurigkeit rauszulassen.
Ich kann für ihn da sein und der Fels in der Brandung sein. Die starken Gefühle überrollen ihn. Ich halte seine Gefühle aus. Bin da für ihn. Verstehe ihn. Begleite ihn.
Und nachdem sich seine Gefühle (von selbst) wieder gelegt haben, können wir fürs Wochenende einen fetten Nachtspaziergang planen. Mit warmer Skiunterwäsche 😊
Bedürfniserfüllte Grüße
Andrea