Die Kindergartenpädagogin (für welche die Selbständigkeit von Kindern oberste Priorität hat) sieht mich streng an und zischt: „Er muss sich die Jacke selbst anziehen. Er kann es ja schon alleine!“
Ich zucke zusammen und höre auf, meinem Kind zu helfen. Er sieht mich traurig an und beginnt bitterlich zu weinen, was mich nachträglich über die Selbständigkeit von Kindern nachdenken ließ.
Dieses Erlebnis vor fast 6 Jahren rührt mich heute noch. Ich habe mich tatsächlich von der Pädagogin aus der Verbindung mit meinem Sohn kicken lassen.
Was war passiert?
Ich war damals unsicher in meiner Haltung, ich dachte, die Pädagogin hat eine Ausbildung und weiß mehr als ich. Außerdem hatte diesen irren Glaubenssatz in mir, welcher lautete:
„Sonst lernt er es nie! … Und ich bin schuld daran“.
Du auch? Doch, glaubst du ernsthaft, ein junger Mann mit 25 Jahren hält seiner Partnerin den Fuß hin und sagt: „Schuh anziehen, Schatzi.“
Dieser Glaubenssatz, der viel zu viel Leid in die Familien bringt, ist in Wirklichkeit purer Bullshit!
Kennst du einen gesunden Menschen, der sich mit 20 Jahren die Jacke nicht anziehen kann? Kennst du etwa einen 20-Jährigen, der sich den Popo nicht selbst abwischen kann? Oder sich seinen Pulli nicht anziehen kann?
Gesundes Verhalten
Wenn dich dein Kind um Hilfe bittet, ist es ein sehr gesundes Verhalten, (das Fragen zeugt übrigens von der beginnenden Selbständigkeit von Kindern, weil sie sie aktiv für sich einstehen), von dem wir Erwachsenen so viel lernen können. Wie viele Mütter schuften Tag und Nacht, weil sie um keine Hilfe bitten können? Wie viele Menschen landen im Burnout, weil sie alles alleine schaffen wollen? Wie viele Menschen haben Angst sich zu öffnen, weil ihnen eingeredet wurde, dass um Hilfe beten Schwäche bedeutet. Wie vielen Menschen könnte viel Leid erspart werden, wenn sie sich trauen würden, um Hilfe zu bitten?
Es grenzt an Irrsinn, wenn wir unseren Kindern dieses Verhalten abtrainieren!
Selbständigkeit von Kindern: Autonomie kommt von selbst
Warum? Weil Kinder ab einem bestimmten Alter (Autonomiephase) selbstständig werden WOLLEN, das ist in ihnen angelegt. Durch ihre natürliche Neugierde werden sie angetrieben zu lernen. Unsere Gene sind also darauf getrimmt, dass wir selbstwirksam werden! Was die Selbständigkeit von unseren Kindern ganz ohne unser Zutun fördert. Die Entwicklungspsychologie weiß das schon lange. Doch in unseren Köpfen spukt da immer noch ein lautes „Verwöhne das Kind bloß nicht!“ herum. Danke, Johanna Haarer.
Bedürfnisse
Warum will mein Kind,
… dass ich ihm die Jacke anziehe.
… dass ich ihm den Popo abwische.
… dass ich ihm das Essen schneide.
… dass ich ihm die Schuhe binde.
… dass ich ihm das Essen schneide.
… usw.
Es geht, wie so oft, um Bedürfnisse, die du mit deiner „Hilfe“ erfüllen darfst!
- Vielleicht fühlt sich dein Kind wunderbar umsorgt, wenn du ihm nach einem anstrengenden Kindergartentag die Jacke liebevoll anziehst.
- Dein Kind fühlt sich für dich wichtig, wenn du ihm die Schuhe bindest.
- Vielleicht fühlt es sich gesehen, weil es wirklich Schwierigkeiten hat, sich den Po abzuwischen.
- Es bestätigt deinem kleinen Menschen, dass er geliebt wird, wenn du ihm den Pulli anziehst.
- Oder dein Kind fühlt sich unterstützt, wenn du ihm bei seinen Hausaufgaben hilfst.
- Dein Kind fühlt sich vielleicht mit dir liebevoll verbunden, wenn du ihm sein Brot schmierst.
Aufmerksamkeit, Zuneigung, Sicherheit, Annahme, Stabilität, Verbindung, Liebe, Fürsorge, Kontakt, Entspannung, Vertrauen, Einfühlsamkeit … diese und noch viel mehr Bedürfnisse kannst du deinem Kind mit einer „Hilfetat“ erfüllen. Ein (oft) minimaler Aufwand für eine maximale Wirkung! 🙂
Wir Erwachsenen lieben es doch auch!
Ich fühle mich wertvoll für meinen Partner, wenn er mir liebevoll einen Kaffee zubereitet.
Es fühlt sich für mich so kuschelig fürsorglich an, wenn mir mein Liebster in die Jacke hilft.
Ich schätze es sehr, wenn er mir das Auto in die winzige Parklücke stellt, weil ich gerade keine Nerven dazu hab.
Vielleicht würde er das alles nicht tun, wenn seine Mama ihm ein Vorbild gewesen wäre, dass immer darauf pocht, dass er alles selbst macht.
Er macht das alles für mich, obwohl ich alles selbst machen könnte. Seht ihr den Irrsinn in den Aufrufen, dass man dem Kind auf keinen Fall helfen soll?
Noch was: Stell dir vor, im Hotel sagt der Kellner bei der Bestellung: „Nein, ich werde dir nicht helfen. Du kannst dir das Essen ja schon selbst zubereiten, da hinten ist die Küche.“
Wann sollten wir unserem Kind nicht helfen – wann hemmen wir die Selbständigkeit für Kinder?
Ungefragt zu helfen, ist meist ungesund. Gesunde Kinder sagen es uns, wenn sie Hilfe wollen!
Und wenn das Kind wütend wird, weil es es nicht schafft sich die Schuhbänder zu binden? Oft können wir die Wut unseres Kindes aus verschiedenen Gründen nicht aushalten. Dann helfen wir, obwohl uns kein Mensch darum gebeten hat. Unser Job ist es, die Wut zu containen. Also, verständnisvoll da zu sein, ohne selbst in der Wutwelle zu ertrinken. Außerdem ist es unser Job, sich die eigenen wunden Punkte anzusehen. Wieso kann ich keine Wut aushalten? Wie ist in meiner Herkunftsfamilie mit Wut umgegangen worden. Durfte ich wütend sein?
Destruktiv ist es auch, wenn wir unserem kleinen Menschen nichts zutrauen. „Das mach ich für dich.“, oder „Das kannst du noch nicht.“ sind Sätze, die sich negativ auf das Selbstbewusstsein und auf die Selbständigkeit des Kindes auswirken. Ja, es gibt Dinge, die wir für unser Kind tun müssen, weil sie (lebens)gefährlich für sie sein können. Aber um diese geht es mir hier nicht. Ansonsten ist auch hier Selbstreflexion gefragt.
Wieso helfe ich meinem Kind ungefragt? Will ich mich überlegen, nützlich fühlen oder die Kontrolle haben? Woher kommt das? Wie kann ich mich selbst liebevoll unterstützen, die Kontrolle loszulassen? Welche Möglichkeiten gibt es, mich anderweitig nützlich zu fühlen?
Und was ist, wenn es schnell gehen muss?
Ja, ich kenne Situationen, in denen die Zeit knapp wird. Wenn es ewig dauert, bis die Schuhe angezogen sind. In einzelnen Situationen ist es legitim, ungefragt (mit Erklärung) zu helfen. Wenn sich solche Situationen allerdings häufen, würde ich gegensteuern. Denn so nehmen wir dem Kind wirklich die Möglichkeit zu lernen.
Will dein Kind (gefühlt) dauernd Hilfe?
Wir können hier detektivisch vorgehen. Wieso mag es gerade absolut nichts selbst machen? Welches Bedürfnis hungert so sehr? Was ist da gerade los?
Bedürfnis nach Nähe, Verbindung, Aufmerksamkeit:
Vielleicht haben seine Bezugspersonen gerade sehr mit ihren eigenen Problemen und es erhält mit seinen Hilfeanfragen (auch negative) Verbindung? Wie könnt ihr eure liebevolle Verbindung wiederherstellen? Was wäre nötig, um wieder Nähe herzustellen?
Bedürfnis nach Erholung, Fürsorge, Sicherheit:
Es könnte auch sein, dass dein Kind gerade mitten in einem Entwicklungssprung ist. Es ist vollkommen normal, dass es nochmals ins Babyalter zurückwill, um sich von den Strapazen zu erholen. Wenn sich die Gehirnbahnen neu vernetzen, ist es so anstrengend für unsere Kinder. Nichts ist mehr, wie es wahr. Gefühle überfluten die kleinen Körper. Für viele Kinder ist es so wohltuend nochmals wie ein Baby betüdelt zu werden. Sie können sich zurücklehnen und einfach nur sein. Macht euch Tüdel-Zeiten aus! Ich habe meinem Sohn dann liebevoll gefüttert und mit ihm in Babysprache geredet. So konnte er sein Bedürfnis nach Erholung und Fürsorge fix auffüllen und anschließend wieder „groß“ sein.
Bedürfnis danach gesehen zu werden, nach Sinn, nach Freude:
Beobachte dich selbst. Ist es für dich nicht gut genug, wie es dein Kind macht? Besserst du ständig nach? Belehrst du dein Kind, wie es die Sachen besser machen kann. Dein Kind hat vielleicht die Freude daran verloren, weil die Dinge ohnehin nie gut genug macht. Verständlich, oder? Schau liebevoll in dich, wieso du es nicht aushalten kannst, wenn etwas nicht perfekt ist. Ist es dir auch nicht gut genug, wie dein Partner Dinge erledigt? Geht es dir um Perfekt sein? Oder um Kontrolle? Wie würde dein Leben sein, wenn alles nur mittelmäßig erledigt wird?
Ich bin überfordert
Wenn du dich täglich überfordert fühlst und ständig auf die Kooperation vom Kind angewiesen bist, brauchst du Hilfe! Ihr braucht andere Wege. Ihr braucht Erleichterung! Es muss zu den Ursachen hingesehen werden, um neue Lösungen zu finden. Sei es dir wert, es nicht so hinzunehmen. Hier geht´s nämlich gar nicht um die Selbständigkeit von Kindern.
Adultismus
Wie kann es denn sein, dass wir Erwachsenen entscheiden, ob unser Kind Hilfe braucht oder nicht? Nein, wir können es erstens nicht wissen und haben auch nicht das Recht das zu entscheiden. Das ist übergriffig und wirkt sich negativ auf unseren kleinen Menschen aus.
Hilflosigkeit
Wenn die Bemühungen, Hilfe zu bekommen zu oft ins Leere laufen, sind die Folgen immer negativ!
Das Kind bleibt alleine mit der Hilflosigkeit, weil diese nicht gezeigt werden darf.
Vorbilder fehlen. Welcher Held zeigt sich im TV hilflos? Wir Erwachsenen vermeiden es, darüber zu reden.
Weil die Eltern immer sagen „Das schaffst du schon alleine.“ schämt sich das Kind, Hilfe zu brauchen.
Es denkt, dass es alles alleine schaffen muss. Oder das Kind resigniert ganz und zeigt Symptomen wie zum Beispiel Entwicklungsverzögerung.
Aber auch Aggression können die Folge von innerer Hilflosigkeit sein.
Wenn Hilflosigkeit nicht da sein darf, lebt sie im Inneren des Kindes weiter! Sie muss sich nun destruktiv zeigen.
Fazit betreffend Selbständigkeit von unseren Kindern und dem Helfen
Helft euren Kindern aus vollstem Herzen, anstatt euch in einen Machtkampf verwickeln zu lassen. Es kann eine pure Freude sein, die dahinter liegenden Bedürfnisse durch diese so einfachen Taten zu erfüllen. So fördert ihr gleichzeitig indirekt die Selbständigkeit eurer Kinder, denn wenn ihre Tanks gefüllt sind, trauen sie sich mehr zu!
Seid euch sicher, im jungen Erwachsenenalter wird euch keiner mehr ins Klo rufen, um einen Po sauberzumachen! 😉
Alles Liebe
Andrea
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