Ein besonderes Spiel als Unterstützung
Mein Herzensglückskind (3,5 Jahre) macht an manchen Tagen scheinbar absichtlich Dinge die ich nicht will. Um ehrlich zu sein, war und ist es für mich sehr schwer dabei ruhig zu bleiben. Sehr oft riss er sich in der Stadt los und lief davon, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben, mein Herz rutschte mir jedes Mal in die Hose. Danach erzählte ich ihm von meiner Angst, er zeigte zwar Verständnis, doch am nächsten Tag begann das Spiel von neuem. Es gab noch viele andere ähnliche Situationen. Ich fühlte mich hilflos und wütend gleichzeitig.
Natürlich gibt es auch andere Gründe warum unsere Kinder sich so verhalten, es können auch andere Bedürfnisse dahinter stecken. Ich finde es wichtig solche Verhaltensmuster zu hinterfragen und zu reflektieren, also mit dem Kind darüber zu sprechen um so gemeinsam herauszufinden, wozu es dieses Verhalten braucht.
Bei uns ging es jedenfalls um Macht (Es geht nicht um „Machtausübung“, sondern um das Gefühl, über seinen Körper und sein Leben selbst bestimmen zu können, sie nennt es im englischen Original „Power“ in der deutschen Übersetzung wurde es mit „Macht“ übersetzt), im Buch „Von der Erziehung zur Einfühlung“ (Leseprobe vom Buch) von Naomi Aldort wird dieses für mich sehr interessante Thema beschrieben.
Obwohl wir sehr darauf achten unserem Herzensglückskind so viele Entscheidungen (die ihn betreffen) wie möglich zu überlassen, fühlt er sich in anderen Situationen oft hilflos. Wenn wir zum Beispiel zu einem Termin müssen er aber noch spielen will, wenn Papa wieder mal keine Zeit zum Spielen hat, wenn Oma keine Schokolade mehr zuhause hat, wenn der Spielzeugladen geschlossen hat, usw. Das alles macht ihn ohnmächtig, er kann nichts dagegen tun.
Naomi Aldort erklärt es in ihrem Buch so:
Die Hilflosigkeit des Kindes, die ausgedrückt und im Gleichgewicht zur Macht bzw. Autonomie steht, gehört zum Mensch sein dazu, es ist ein sinnvoller Teil unserer Existenz. Kann die Hilflosigkeit jedoch nicht ausgedrückt werden, oder ist es aus dem Gleichgewicht geraten, kann das wiederholt aufgenommene Gefühl von Hilflosigkeit zu Aggression oder Resignation führen.
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Die offenkundigste Art Hilflosigkeit zum Ausdruck zu bringen ist zu allem und jedem NEIN zu sagen oder zu stören.
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Das Gefühl von Macht (Autonomie) kann mit Powerspielen (sie nennt es im Buch nicht so, mir scheint dieser Begriff aber sehr passend) wieder gestärkt werden. Jene Spiele sollen nicht mit den Situationen, die sehr problembehaftet sind durchgeführt werden, sondern unabhängig davon.
Ich denke es ist wichtig, dass jedes Kind sein eigenes Powerspiel entwickelt, in das der Erwachsene dann mit einsteigt. Einen Zeitpolster zu haben, ist für die Spiele Voraussetzung, denn Kinder spüren es sehr genau wenn man dem Ende entgegen drängt.
Beispiele
Das Kind rennt davon wenn man ihm den Schlafanzug anziehen möchte, dann könnte man ihm nach sausen und mit lustiger Stimme rufen: „Oh nein, nicht davon laufen!“. Und sich so eine heiße Verfolgungsjagd liefern.
Wenn das Kind etwas zu Boden wirft, dann könnte man dramatisch rufen: „Oh nein, jetzt muss ich wieder alles aufheben!“.
Ich habe einen Legoturm gebaut und ihn mit lustiger Stimme angefleht: „Bitte wirf meinen schönen Legoturm nicht um!“. Er gluckst dann vor Freude fegt ihn um. „Oh nein!“ rufe ich dann entrüstet.
Im Buch werden folgende „Regeln“ geschildert:
- Der dramatische und zugleich spielerische Ausruf „Oh nein!“ signalisiert dem Kind dass man bei dem Spiel mit macht.
- Das Spiel soll aus Situationen in denen ein Kind ein Machtspiel beginnt, entstehen
- Man muss sich keine Sorgen machen denn das Kind weiß genau, dass es ein Spiel ist, aber der nutzen für ihn ist ein echter. Es wird die Spiele auch nicht nutzen um ständig zu stören, oder alles durcheinander zu bringen.
- Das Spiel soll auch dem Erwachsenen Spaß machen, es soll keine Pflichterfüllung sein. Kinder spüren das, wenn es der Bezugsperson keine Freude bereitet.
- Das Spiel wiederholt sich so lange, bis das Kind aufhört, dann ist sein Bedürfnis nach Macht gestillt. Das Spiel soll nicht vom Erwachsenen beendet werden, da dem Kind dann wieder seine Macht geraubt wird.
Meiner Meinung nach können jene Spiele mit Kindern ab ca. 18 Monaten gespielt werden, denn für Kinder die ihr Ich-Bewusstsein noch nicht integriert haben macht es wenig Sinn.
Es macht uns so viel Freude uns auszuprobieren und übermütig zu spielen. Mein Herzensglückskind liebt diese Spiele, er genießt es so der Chef zu sein. Er erkennt übrigens genau den Unterschied, ob es ein Spiel oder nicht ist.
Das Powerspiel sehe ich als Ventil für die angestauten Emotionen des Kindes.
Der Rest vom Buch ist übrigens auch sehr lesenswert, Naomi Aldort verbindet wunderbar die Gewaltfreie Kommunikation (von Marshall Rosenberg) und „The Work“ (von Byron Katie).
Jesper Juul empfiehlt übrigens ebenfalls, täglich mit den Kindern mindestens 1 Stunde zu spielen und ihnen dabei die KOMPLETTE Führung zu überlassen.
Ich möchte deutlich darauf hinweisen, dass diese besonderen Spiele kein „Ausschalter“ für unerwünschtest Verhalten sein soll. Man muss auf die Bedürfnisse des Kindes achten und schauen was es braucht.
Bitte nutzt diese Spiele nicht als Methode, sondern als Unterstützung und aus Freude am Spiel!
„Spielen mit dem Kind“ ist ein unterschätztes „Heilmittel“ hier gehts weiter zu den Bindungsspielen
Powerspiele können aus jedem Machtspiel entstehen
Zum Beispiel hat er die Türe vor meiner Nase zugemacht, ich hab dann mit lustiger Stimme (ganz wichtig) gebettelt „Oh nein, lass mich rein!“ er hat sie aufgemacht und schnell wieder zugemacht und das Spiel begann von Neuem.
Oder er läuft davon, wenn wir uns für draußen anziehen, dann laufe ich ihm nach und rufe „Oh nein, lauf nicht weg!“.
Oder er nimmt mir irgendwas weg, ich sage dann mit lustiger Stimme „Oh nein, gib mir das wieder zurück!“.
Dieses Herausfordern von Powerspielen a lá „Wirf meine Hose nicht auf die Couch“ aber bitte NIE dazu verwenden, dass das Kind Sachen macht, die du von ihm willst. Sowas wie „Bitte räum deine Spielsachen nicht auf“ oder ähnliches. Denn das merken die Kinder und verlieren so erst wieder die „Macht“.
Vor jedem Powerspiel überlege ich, ob ich mir ob ich Spaß an diesem Spiel haben kann.
Denn Spaß daran zu haben, ist für beide das Wichtigste! Wenn du keinen Spaß daran hast und sie nur spielst um ein Ziel zu erreichen, ist es nicht sinnvoll, die Kinder merken das sofort. Außerdem eröffne ich das Powerspiel immer mit lustiger Stimme und mit „Oh nein…“
Durch die lustige Stimme und die ausgelassene Stimmung kann mein Sohn gut unterscheiden, wann es ein Powerspiel ist und wann nicht. Wir hatten in der Hinsicht keine Probleme.
Zudem sollte man sich dringend überlegen, wo man dem Kind im Alltag noch mehr Selbstbestimmung geben kann!
Außerdem möchte ich nochmals betonen, dass es so wichtig ist, nachzusehen warum das Kind bestimmte Dinge macht! Es kann auch etwas anderes dahinterstecken als ein Macht-Hilflosigkeits-Ungleichgewicht!
Alles Liebe
Andrea
Ich begleite dich gerne in eine liebevolle Beziehung zu deinem Kind!
Liebe Julia,
vielen dank für deine Frage. Ich finde die Wahrheit zu sagen am besten. Sag ihm dass du gerne bald losgehen willst und ob du ihm das Anziehen durch ein Spiel erleichtern sollst. Denn im Grunde steht es fest, dass du mit ihm raus willst und dass es dafür einen Zeitlichen Rahmen gibt.
Wenn du sein Bedürfnis nach Autonomie stillen magst, dann würde ich dir empfehlen, ihn das Spiel selbst abschließen zu lassen.
Liebste Grüße Andrea
Liebe Andrea, ich habe noch eine Frage zu deinem sehr hilfreichen Artikel zu den Bindungs- und Powerspielen. Du nennst selbst das Beispiel, dass das Kind sich nicht anziehen will und man denn verschiedene Spiele machen kann. Ein Beispiel aus unserem Alltag: Ich gehe zu meinen Sohn (3) ins Zimmer, wo er gerade spielt und sage „Ich möchte, dass wir uns anziehen, um zu xy (Kindergarten, Spielplatz, Einkaufen, seinem Freund o.ä.) zu gehen und er reagiert nicht, also spielt weiter, sagt Nein oder läuft weg. Es gäbe genug Puffer für 30 Minuten Spielen, ich könnte also, wenn er vor dem Anziehen wegläuft ein „Oh nein, nicht weglaufen“-Spiel machen. Nun schreibst du aber, man darf das Spiel nicht dafür benutzen, dass das Kind am Ende doch das macht, was man will, denn dann fühle es sich noch machtloser. Heißt das, ich spiele 30 Minuten „Fangen, Hinterherrennen“ mit den Anziehsachen ohne ihn wirklich dabei anzuziehen und lege dann die Kleidung anschließend weg, was dann ja auch heißt er geht dann ohne Kleidung zu xy oder wir gehen gar nicht zu xy, also an dem Tag wirklich nicht in den Kindergarten, Einkaufen etc. Oder ginge es auch, dass ich nach 30
Minuten sage „Nun ist das Spiel zu Ende, ich möchte dich nun wirklich gerne anziehen und losgehen“. Wenn er dann mitmacht prima. Wenn nicht, was dann?
Und bei dem „Blödstellspiel“, also Shirt als Hose etc. und Kind sagt, wo es eigentlich hingehört, da mache ich doch dann eigentlich genau das: Ich benutze das Spiel um meinen Wunsch durchzusetzen, die einen würden sagen „super spielerisch gut gelöst“, die anderen sagen „das war ja dann manipulativ und wieder hat das Kind sich machtlos o.ä. gefühlt“… Ich bin da also etwas verwirrt… Was ist denn nun wann ok und wann nicht? Liebe Grüße Julia
Hallo Jitka,
eure Spiele hören sich wunderbar an 🙂 Danke fürs Teilen!
Ich liebe es auch mit meinem Sohn auf diese besondere Art und Weise zu spielen.
Ganz liebe Grüße
Andrea
Hallo Andrea, ich bin gerade auf deinen Blog gestoßen und es gefällt mir sehr hier bei dir. Den Beitrag zu den Bindungsspielen fand ich super. Tatsächlich habe ich intuitiv ganz viele Arten, fast alle glaub ich, auf die eine oder andere Weise schon immer gemacht. Aber jetzt bin ich nochmal mehr mit meiner Aufmerksamkeit und mir dem Herzen dabei als vorher.
Unsre Art Powerspiel, als wir noch ein Zuhause hatten (mittlerweile sind wir seit sieben Monaten Nomaden auf Gemeinschaftssuche)war es, dass ich aus unsren Maxi-spielepolstern einen Turm gebaut habe, so übertrieben vorsichtig und dann sagte „Soooo ein schöner Turm, den wirft bestimmt NIEMAND um“ naha, den Rest kannst du dir denken.
„Dran“ war das Spiel, wenn ich merkte, mein Sohn hat zuviel überschüssige Energie oder fängt an „Unfug“ zu machen. Ein weiterer Klassiker, der auch oft unterwegs geht ist Fangen mit unserem Signalwort „Pipapo“. Und natürlich anschließend tüchtig raufen und toben. Da rief mein Sohn, wenn er irgendwie unausgeglichen war den Satz, den ich sonst benutzte „Ich glaube, wir müssen mal Pipapo spielen!“
Ich freue mich, dass ich nach dem Lesen deiner Beiträge noch mehr verstanden habe, was ich da intuitiv schon gemacht habe.
Danke dafür und gerne mehr! VLG Jitka
Hallo Fine,
die Kommentare gebe ich händisch frei, weil ich so verhindern möchte, dass Spam-Kommentare, Viren-Links und unangemessene Inhalte gepostet werden.
Liebe Grüße
Hallo Fine,
ich hab im Beitrag schon geschrieben, dass dieses besondere Spiel nur dann gespielt werden soll, wenn viel Zeit da ist. Außerdem soll es nicht mit problembehafeten Dingen praktiziert werden.
Du sagst du versteht ihn und seine Situation. Genau das würde ich ihm sagen. Sag ihm, was du meinst dass er fühlt. „Ja, es ist jetzt voll böd für dich in den Kindergarten zu gehen. Ich mag auch öfters nicht in die Arbeit“ Ohne Vorwürfe und ohne Belehrungen. Nein, das wird nicht „funktionieren“ dass dein Kind dann schneller fertig ist. Dein Sohn wird sich aber verstanden fühlen. Er wird seine Gefühle nicht mehr als falsch interpretieren. Denn Kinder sind so von uns abhängig, dass sie alles was wir sagen und tun in sich aufsaugen.
Und wenn du sagst „wir müssen gleich los“ ist das für mich nicht klar genug. Denn ihr müsst nichts. DU willst dass dein Kind in den Kindergarten geht. Damit du dann in die Arbeit oder woanders hin kannst. Ich würde da die Verantwortung übernehmen. Wenn sich dein Kind nicht Zähneputzen oder anziehen will, dann mach du das. Denn du bist es die es eilig hat. „Ich helfe dir, weil ICH will dass wir pünktlich im Kindergarten sind“ du kannst es auch bitten sich anzuziehen, doch eine Bitte ist eine Bitte und kann vom Kind abgelehnt werden.
Das Powerspiel ist keine Methode damit alles flotter geht und das Kind gehorsamer ist. Es ist eine mögliche Strategie damit das Kind seine Hilflosigkeit ausgleichen kann. Nicht mehr und nicht weniger.
Liebe Grüße
Andrea
Schade. Warum ist mein Kommentar weg?
Hallo, ich verstehe nicht wie mein Kind dann erkennen soll, dass ich möchte, dass er sich anzieht/Zähne putzt etc. Damit lernt er doch nur, dass er dies nicht tun muss, sondern unbegrenzt mit mir spielen kann, sobald er „Theater macht“. Vor allem in Situationen wie morgens vor dem Kindergarten will er sich selten fertig machen und sich anziehen, er würde (logischerweise) viel lieber zu Hause bleiben, aber das geht natürlich nicht. Wir müssen arbeiten und haben auch morgens nicht unbegrenzt Zeit um mit ihm ein Powerspiel zu spielen… natürlich verstehe ich ihn und ich verstehe seine verlorene macht und Hilflosigkeit. Aber ändern kann ich es ja morgens trotzdem nicht. Manche Dinge müssen einfach sein.
Oder wie soll man da am besten mit umgehen? Ich verstehe ihn und seine Emotionen und Intuition sehr genau, aber in Situationen mit Zeitdruck (der leider im Alltag vorhanden ist), ist ja kaum etwas anderes als „zieh dich bitte sofort an, wir müssen gleich los“ möglich.
Theorie und Praxis ….
Hallo Maya,
leider habe ich keinerlei Erfahrung mit Powerspielen in Gruppen.
Vielleicht kannst du dich an die Autorin, Aletha J. Solter, wenden.
Mir würde noch Original-Play einfallen. Schau mal hier: https://www.youtube.com/watch?v=A1MB7_1zvRs
Liebe Grüße
Andrea Schiefer
Liebe Andrea, mich interessiert, ob ich Powerspiele auch unter den Kindern einsetzen kann. Ich unterrichte eine 1. Klasse.
Liebe Grüsse
Maya