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So zähmst du deine Wut – anstatt dein Kind zu verletzen

Kann man seine Wut stoppen?

Stell dir folgende Situation vor:

Neugierig kommst du ins Wohnzimmer gelaufen. Dein Kind hat nach dir gerufen, es steht direkt vor eurer geliebten Couch. Dein Wonneproppen singt fröhlich vor sich hin und wippt dabei lustig mit seinem Po. Gerade, als du entzückt ins Lied einstimmen willst, siehst du den Stift in seiner Hand.

OH MEIN GOTT, NEIIIIIIIN !!!

Auf der Couch sind hunderte schwarze Filzstiftstriche, und mit jeder Sekunde werden es mehr. Dein Kind hat dich jetzt bemerkt, es sieht dich an und erstarrt vor lauter Schreck. Deine Mimik gleicht nämlich inzwischen der eines Monsters aus der tiefsten Unterwelt.

Du fühlst ein Pochen in deinem Kopf, dein Blutdruck steigt ins Unermessliche. Du denkst daran, was die Couch gekostet hat und dass die verdammten Striche bestimmt nie wieder abgehen. Das Feuer der Wut entfacht und brennt innerhalb von Sekunden lichterloh in dir.

Tausend Sachen, die du niemals zu deinem Kind sagen wolltest, werden in wenigen Sekunden aus deinem Mund wie Kanonenkugeln herausschießen. Jetzt kennst du kein Pardon mehr, du setzt zu einem zornigen Schrei an …

STOPP!!!!

Tu das nicht, du wirst nachher alles bereuen, was du gesagt hast und dass du dein Kind grob angefasst hast.


Was wäre, wenn wir solche Situationen zukünftig als Möglichkeit für unser Wachstum sehen?
Was wäre, wenn wir diese Gelegenheit nutzen, um für unser Kind ein Beispiel für Selbstregulation zu sein?

Da kommt unsere unbändige Wut her

Warum verwandeln wir uns von einer auf die andere Sekunde in ein schreckliches Monster?

Ein Teil unseres Gehirns (die Amygdala) gaukelt uns vor, dass dies eine Situation von höchster Not ist. Sie denkt, es geht jetzt um Leben oder Tod. Dieser Gehirnteil spielt eine wichtige Rolle in der Bildung von Emotionen, insbesondere von Wut und Angst.

Die Amygdala entführt sozusagen unser oberes Gehirn, mit dem wir moralisch und vernünftig denken können. Jetzt reagieren wir nur noch mit Kampf oder Flucht. Deshalb kannst du nur schwer die Wut stoppen.

Sie hilft uns, reflexartig wegzulaufen, wenn ein Auto direkt auf uns zukommt. Sie lässt uns mit dem Auto ausweichen, wenn plötzlich ein Hindernis auf der Straße auftaucht. Die Amygdala lässt uns „STOPP“ brüllen, wenn unser Kind eine giftige Schlange anfassen will.

Die Amygdala reagiert auf Situationen sozusagen, wie ein Matrose, dessen Schiff nachts auf einen riesigen Eisberg zufährt. Er schnappt sich das Steuerrad und verhindert das Schlimmste, und zwar ohne vorher den Kapitän (also unser moralisches, logisches, soziales Denken) zu wecken. Denn dafür hätte die Zeit ja nicht mehr gereicht.

Diese Amygdala lässt uns sekundenschnell reagieren. Eben, um eine lebensgefährliche Situation zu entschärfen. Unsere Situation mit der bemalten Couch ist allerdings überhaupt nicht lebensgefährlich.

Also, weck den Kapitän BEVOR du handelst:

Das kannst du tun, um deinen Verstand vor lauter Wut NICHT zu verlieren!

  • MUND ZU, denn jetzt sagst du Dinge, die du später bestimmt bereuen wirst.
  • Nimm deine HÄNDE HINTER DEN RÜCKEN, um einen groben Körperkontakt zu vermeiden. (In der oben beschriebenen Situation nehmen wir dem Kind besser vorher den Stift aus der Hand.)
  • Sag in Gedanken alle grausamen Dinge zu deinem Kind, die aus dir raussprudeln wollen. Inszeniere diese Show aber NUR IN DEINEM INNEREN!
  • GEH AUS DER SITUATION. Sag deinem Kind, dass du eine Pause brauchst, um dich zu beruhigen.
  • BEWEGE DICH, mach ein paar Hampelmänner oder andere Turnübungen. So kannst du aus der „Überschwemmung mit Wut“ (welche das untere Gehirn verursacht) wieder rauskommen und eine Verbindung zum „vernünftigen“ Hirn schaffen.
  • ATME tief und langsam und zähle. Es hilft, sich die Zahlen bildlich vorzustellen, so wird das logische Hirn dazugeschaltet und die emotionale Flut gestoppt. Oder sagt dir selbst immer wieder: “ Wut stoppen „

Ich warte, bis sich der Wutnebel verzogen hat und ich wieder klar im Kopf bin. Dann erst öffne ich meinen Mund wieder. Ich erkläre, wozu ich eine unbemalte Couch brauche und was ich fühle.

Das Kind hat ja keine Ahnung vom Wert der Couch und kann sich bestimmt auch nicht vorstellen, warum diese wunderbare Sitzgelegenheit keine Leinwand sein soll. Ich könnte mein Kind fragen, ob es mir beim Saubermachen hilft. Ich biete Alternativen an, worauf es seine künstlerischen Fähigkeiten ausleben darf.

Kindliche Rache

Falls mein Kind die Couch aus kindlicher Rache verziert hat, versuche ich herauszufinden, womit ich (oder jemand anders) es so verletzt habe, dass es zu so drastischen Maßnahmen greifen muss.

Kindliche Rache wird von Kindern angewandt, weil sie ihre Gefühle noch nicht so gut mit Worten ausdrücken können. Deshalb ruft es mit seiner „Aktion“ ähnliche Gefühle in uns hervor, welche sie davor gefühlt haben, um sie uns so zu zeigen.

Auch wir Erwachsenen bedienen uns dieser kindlichen Bewältigungsmechanismen der Rache. Und das, obwohl unser Gehirn viel reifer ist. Du hast doch bestimmt auch schon mal daran gedacht, jemandem genau so weh zu tun, wie er dir, oder es sogar auch getan.

Natürlich sage ich meinem Kind, dass ich es blöd finde, dass es die Couch absichtlich bemalt hat. Ich veranstalte aber keine Schimpftirade, denn es ist erwiesen, dass Vorwürfe im Gehirn unserer Kinder (und auch Erwachsenen) eine Blockade auslösen. Dann sind sie nur noch auf Abwehr eingestellt, sie können uns nicht mehr hören, geschweige denn verstehen.

Mein Fokus liegt eher auf dem Konflikt davor, also dem Grund, warum das ganze passiert ist. Wir können unser Wissen nutzen und es fragen, ob es davor unser jetziges Gefühl hatte. Denn, wenn ich meinem Kind helfe, seine Gefühle auszudrücken, muss es bald keine mehr Rache ausüben.

Dein Kind macht niemals etwas gegen dich, sondern nur für sich!

Es macht mich rasend, wenn mich mein Kind haut

Es macht die Sache natürlich um ein Vielfaches schwieriger, wenn dir dein Kind nachläuft, wenn du weggehen willst, um deine Wut zu zügeln.

Vielleicht hilft dir eine dieser Möglichkeiten, um ruhig zu bleiben:

Tanze

Bevor ich vor Wut zerplatze, schnappe ich mir Kopfhörer und höre meine Lieblingsmusik. Mein Körper entspannt sich schlagartig, meine Mimik wird weicher, ich kann wieder tiefer atmen. Dann tanze ich (klingt blöd, hilft mir aber). Meistens fragt mich mein Sohn dann, ob ich die Musik laut machen kann. Wir tanzen dann unsere Wut raus. Durch die Bewegung sinkt unser Adrenalinspiegel, das wiederum hilft uns beiden wieder klar zu denken.

Meditiere

Wenn die Wutwelle auf mich zurast, rette ich mich vor dem Ertrinken mit einer Meditation. Es fühlt sich in solchen Situationen ja so an, als ob mir der Boden unter den Füßen weggerissen wird, dagegen wehre ich mich natürlich.

  • Sofort schließe ich die Augen und spüre den Boden unter meinen Füßen.
  • Ich spüre, wie mich der Boden sicher trägt und mir den Halt gibt, den ich brauche.
  • Wenn ich mit meinen Gedanken abschweife, beobachte ich meinen Atem, ändere aber nichts an ihm. Dann kehre ich wieder zurück zum Boden, der mich trägt.

Achtsamkeit hilft, mich innerlich leerzumachen. Diese Meditation ist wie ein Surfbrett, mit dem ich auf der Wutwelle surfen kann, anstatt in ihr zu ertrinken.

Bindungsspiele

Wenn mein Sohn anfängt mich zu hauen, laufe ich weg und rufe spielerisch „Oh nein, du kriegst mich nicht.“ Er läuft mir nach und innerhalb kurzer Zeit lachen wir beide. Die Wut verfliegt, wir sind wieder wir selbst.

Manchmal frage ich ihn auch, ob er mit mir „Wrestling“ machen will. Wir raufen dann spielerisch. Ich achte darauf, dass er sich dabei nie hilflos fühlt. Das Lachen entspannt uns, so lassen wir die Wut hinter uns.
Dies ist in keiner Weise ein Aufruf zur Gewalt. Denn im Gegensatz dazu ist dieses Spiel geprägt von Spaß und Lachen.

Über diese besonderen Spiele habe ich hier geschrieben: Bindungsspiele


Denk immer daran: Dein Kind ist dir vollkommen ausgeliefert, es hat nur dich. Du hast die körperliche und auch die psychische Macht.

Die Phasen eines Konflikts

(von Jesper Juul)

Diese Phasen durchläuft unser Kind, wenn es frustriert wird, also seinen Wunsch nicht erfüllt bekommt. Mir hilft es sehr, darüber Bescheid zu wissen.

1. Wunsch des Kindes

2. Frustration: Nein (von mir).

Wenn meine Antwort auf seine Bitte ein ehrliches, persönliches NEIN ist, erkläre mein Nein und nehme seine Wut auf mich an. Ich nehme auch an, dass mich mein Kind jetzt furchtbar blöd findet. Wenn mir jemand einen Wunsch verwehrt, finde ich diese Person in dem Moment ja auch nicht megatoll.

3. Kampf/Streit

Mein Kind haut mich, wirft Sachen runter, macht „absichtlich“ Dinge, die ich nicht will. Also schreit, was kaputt macht usw. Ich erkenne diese Phase an, was mich aber nicht davon abhält, mich und meine Sachen (die das Kind zum Beispiel runterwerfen will) zu schützen. Seine Wut stoppen soll aber nicht mein Ziel sein, sondern der Schutz von mir, anderen und Dingen!

In diesem Beitrag habe ich mich umfassend mit dem Hauen beschäftigt: Mein Kind haut mich

Jedes gesunde Kind kämpft um seinen Wunsch. Kampfgeist ist ja nichts Schlechtes. Später ist es uns sicher recht, wenn es um einen Job oder seine Träume kämpft.

Jetzt und hier kann es seinen Kampfgeist entwicklungsbedingt eben nur körperlich oder in kindlicher Rache ausdrücken.

4. Trauer/“Beleidigt sein“

Mein Kind weit. Durch das Weinen werden im Körper Hormone produziert, welche beruhigend und auch schmerzlindernd wirken. Wir kennen das selbst, wenn wir ausgiebig geweint haben, geht es uns danach besser. Mit dieser Phase schließt das Kind mit der Sache ab. Das Weinen des Kindes hat nicht den Zweck Mitleid zu erregen, sondern es weiß instinktiv um die heilsame Wirkung seiner Tränen Bescheid.

Nach dem Konflikt

Nach dem Konflikt spreche ich mit ihm, sobald wir beide wieder klar denken können. Wenn es ein heftiger Wutanfall war, würde ich mindestens 2 Stunden warten. Denn erst dann ist das Adrenalin im Körper wieder abgesunken.  Ich frage mein Herzensglückskind „Was hat dich so wütend gemacht?“ So helfe ich ihm, seine Gefühle und Gedanken auszudrücken. Selbst wenn das Kind nichts sagt, ist es eine Hilfe um über seine Gefühle nachzudenken. Ich kann auch versuchen, seine Gefühle bzw. seine Absichten zu erraten.

Manchmal spielen wir die Konfliktsituation in vertauschten Rollen nach, dies ist so unterhaltsam und macht Spaß. Meistens kann ich so seine Not in der Situation besser verstehen.

Es ist oft hilfreich, die Konflikt-Szene mit Spielzeug-Figuren oder -Tieren nachzuspielen. Dies hilft dem Kind, den nötigen Abstand zu gewinnen, dadurch kann es besser über seine Gefühle sprechen.

Und wenn du doch ausgerastet bist?

Ganz einfach. Du bringst es wieder in Ordnung, wenn du vorher unsanft mit deinem Kind umgegangen bist oder es angeschrien hast. Sag ihm, dass es dir leid tut und übernimm so die Verantwortung für dein Handeln. Dazu gehört auch, dir selbst zu vergeben. Denn diese Schuld ist mehr als schlecht für die Beziehung zu unserem Kind.

Jesper Juul sagt dazu: Du kannst dich kurz schuldig fühlen und dann nimm dein ganzes schlechtes Gewissen und vergrab es auf nimmer wiedersehen im Wald.

Wir sind alle nur Menschen, klar passiert es, dass wir ausrasten. Doch, alles was zählt ist, wie wir in Zukunft handeln wollen. Wer nicht aufgibt, kann nicht verlieren.

Jetzt liegt es an dir:
Wer und wie willst du im Umgang mit deinem Kind sein?

Alles Liebe

Andrea

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Andrea

Ich bin eine (meist) glückliche Mama eines Sohnes. Kaffee und Kuchen, die innere Welt der Kinder, sowie THE WORK sind meine Leidenschaften. Mein Herz schlägt für eine gleichwürdige Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Ich mag dabei helfen, dass ihr euch mit eurem kleinen Menschen wieder verbinden könnt!

Dieser Beitrag hat 5 Kommentare

  1. Andrea

    Ich freu mich voll, dass mein Beitrag für euer Familienleben hilfreich ist. Mag dir meinen Respekt für das Begleiten von Zwillingen aussprechen. Das ist bestimmt oft herausfordernd. Umso wichtiger finde ich es, dass du ganz sanft und behutsam mit dir bist. <3

    Liebste Grüße
    Andrea

  2. Caro

    Vielen vielen Dank von ganzem Herzen für diesen tollen Beitrag. Ich habe die liebsten Zwillinge die man sich nur wünschen kann, und doch treiben sie mich in der immergleichen Situation manchmal so in den Wahnsinn, dass ich sie anschreie und manchmal auch recht grob anfasse. Natürlich hat das noch nie etwas gebracht außer dass ich mich wie der schlechteste Mensch auf der ganzen Welt fühle. Ich danke dir so sehr für diesen Beitrag und werde alle deine Tipps befolgen, um nicht in der nächsten Wutwelle zu ertrinken.

  3. Andrea Schiefer

    Hach Nicole ❤️

    Ich bin ganz berührt von deinem Feedback, bzw. was mein Blog mit dir macht. Ich freu mich so !

    Ich denke, man braucht viel Geduld mit sich selbst, denn wir geben in jedem Moment unser Bestes ❤️

    Jahrelang beschäftige ich mich schon mit dem beziehungs- und bedürfnisorientierten Umgang mit unseren Kindern. Trotzdem falle ich in manchen Stressmomenten in alte (blöde) Muster zurück.

    Und dann reflektiere ich abends und lerne so mich und mein Kind noch besser kennen. Ich sage meinen Sohn dass es nicht ok war wie ich zu ihm war und dass es mir leid tut. Durch das Reflektieren wachse ich an mir und freue mich auf meinen nächsten Fehler und weiter zu wachsen ?

    Ich wünsche dir viel Kraft auf eurem wunderbaren Weg!

    Liebste Grüße
    Andrea

  4. Nicole

    Oh Andrea, ich lese mich grade von hinten nach vorne durch Deinen Blog und bin ganz begeistert über Inhalt und Qualität Deiner Beiträge. Du hast einen unglaublich lebendigen, bildhaften, unverblümten und humorvollen Schreibstil, wodurch sich die Kernaussagen sehr gut einprägen. Ich habe sonst oft den Eindruck, dass ich lese und lese und lese und auch wirklich begeistert bin, mir aber am Ende doch nicht so viel merken kann, wie ich es mir wünsche. Aber Sätze wie: Also, weck den Kapitän, bevor Du handelst! vergesse ich sicher so schnell nicht mehr und kann ihn hoffentlich auch in entsprechend herausfordernden Situationen immer öfter abrufen.

    Herzliche Grüße, Nicole

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